Ein Foto, ein Vermächtnis
Ein Schwarz-Weiß-Foto.
Darauf ein Mann, der untrennbar zu meiner Geschichte gehört. Sein Gesicht wirkt hart, verschlossen, von den Jahren gezeichnet. Keine Farbe, nur Schwarz und Weiß – wie die Erinnerungen, die er in mir hinterlassen hat. Keine Zwischentöne, nur grelles Licht und tiefe Schatten.
Meine Kindheit lag im Schatten. Angst war mein ständiger Begleiter, sie saß mit uns am Tisch, sie schlief neben uns, sie weckte uns in der Nacht. Eine Stimme, oft betrunken, unberechenbar, brauste wie ein Sturm durchs Haus. Wenn sie laut wurde, erzitterten wir. Wenn sie schwieg, war es fast schlimmer, denn das Schweigen war wie das Knacken vor dem Gewitter. Wir wussten nie, wann der Kochlöffel durch die Luft schnellen würde, wann die Gewalt uns treffen würde. Die Angst war überall – im Wohnzimmer, in der Küche, in unseren Träumen. Sie war der Schatten, der niemals wich.
Immer wieder stellte ich mich schützend vor meine Mutter – ein Kind, das versuchte, eine Gewalt aufzuhalten, die viel zu groß war. Nach außen wollte ich stark wirken, doch in Wahrheit war ich nur ein kleiner Junge, der jeden Tag gegen die Dunkelheit in unserem Haus kämpfte.
Irgendwann kam der Bruch, der alles veränderte. Endlich schien Freiheit möglich, wenn auch nur für einen Augenblick. Doch kurz darauf folgte die Diagnose: eine Krankheit, die ihn fast das Leben gekostet hätte. Drei Tage, sagten die Ärzte. Drei Tage Leben, mehr nicht. Meine Mutter entschied sich, nicht ins Krankenhaus zu gehen. Mein Bruder ebenso. Ich jedoch ging. Nicht aus Liebe, nicht aus Vergebung, sondern weil ich das Bedürfnis hatte, dem Schatten noch einmal ins Gesicht zu sehen.
Er überlebte. Er veränderte sich: er trinkt nicht mehr, er raucht nicht mehr. Er hat einen Job und wirkt glücklicher als je zuvor. Doch eines blieb – seine Sturheit. Und die Dunkelheit, die in mir weiterlebt.
Heute können wir nebeneinanderstehen, reden, miteinander umgehen. Ohne Krieg, aber auch ohne wirklichen Frieden. Vergeben? Nein. Manche Dinge sind zu tief eingeritzt. Sie sind keine Narben, sondern offene Wunden, die mit der Zeit still geworden sind, aber niemals verschwinden.
Dieses Foto ist kein Porträt. Es ist ein Beweis. Für Angst. Für Gewalt. Für Überleben. Aber auch dafür, dass ich nicht gebrochen bin.
Lange trug ich den Gedanken mit mir herum: Ich wollte ein Foto von ihm. Einfach nur ein Bild. Doch allein die Vorstellung fiel mir schwer. Sollte ich ihn darum bitten? Nein – das hätte alles zerstört. Ich wollte keinen Augenblick, in dem er posiert, keinen, in dem er versucht, jemand anderes zu sein. Ich wollte ihn, wie er ist.
Eines Tages, beim Kaffee bei ihm, packte mich plötzlich ein Impuls. Ohne groß nachzudenken sprang ich auf, stellte ihn ans Fenster, das matte Tageslicht fiel schräg auf sein Gesicht. „Jetzt machen wir ein Bild“, sagte ich, und noch ehe er reagieren konnte, hob ich meine Leica und drückte ab.
Ein Klick. Mehr nicht.
Für die Welt ist es ein unscheinbares Foto. Für mich aber ist es ein Vermächtnis – ein Stück Wahrheit, eingefroren zwischen Licht und Schatten. Kein Kunstwerk für die Menschheit, sondern ein stiller Beweis für meine Geschichte.
Fotografie – mein einziger Frieden
Inmitten all dieser Dunkelheit habe ich einen Weg gefunden, der mich trägt: die Fotografie. Sie ist mein Gegenmittel, mein Anker, mein Atem. Wenn ich durch den Sucher sehe, beginnt das Chaos zu verschwinden. Jeder Klick ist ein Schlag gegen die Dunkelheit, jeder Filmstreifen ein Stück Freiheit.
Vor allem die analoge Fotografie zwingt mich, langsamer zu werden, genauer hinzusehen, zu fühlen. Sie schenkt mir das, was ich als Kind nie hatte: Kontrolle, Stille, einen Raum, der nur mir gehört.
Die Kamera ist mein Schutzschild, mein Werkzeug, um die Schatten zu bändigen. Sie ist mein Weg, um Frieden zu finden in einer Vergangenheit, die nie friedlich war. Ohne sie würde die Dunkelheit gewinnen. Mit ihr habe ich gelernt: Ich kann das Licht selbst erschaffen.

